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Zweckgebundene Fahrzeuge (PBVs): Von der Nischenkuriosität zur industriellen Realität

  • Dr. Rainer Scholz
  • 9. Sept.
  • 5 Min. Lesezeit
Fahrzeugflotte (AI created)
Fahrzeugflotte (AI created)

Eine stille Transformation in der Automobilindustrie


Als der Begriff „Purpose-Built Vehicle “ (PBV) vor einigen Jahren erstmals in Strategieberichten und OEM-Präsentationen auftauchte, klang er fast esoterisch. Autos, die von Grund auf für einen einzigen Anwendungsfall entwickelt wurden? Transporter mit austauschbaren Karosserien? Robotertaxis, die speziell für autonomes Fahren entwickelt wurden, statt umgerüsteter SUVs? Für viele Branchenbeobachter schienen PBVs eher Science-Fiction als industrielle Realität zu sein.


Im Jahr 2025 hat sich die Lage dramatisch verändert. Was einst ein Randexperiment war, ist heute ein wachsendes Industriesegment mit messbaren Volumina, eigenen Produktionslinien und ernsthaften Investitionszusagen etablierter Akteure. PBVs sind keine Kuriositäten mehr. Sie entwickeln sich zum neuen Rückgrat der Logistik, der Mobilitätsdienste und der Nischenmärkte für Fahrzeuge.



Definition des zweckgebundenen Fahrzeugs (PBV)


Ein PBV wird grundsätzlich von Anfang an für einen bestimmten Einsatzzweck konzipiert, konstruiert und gefertigt. Im Gegensatz zu Umbauten oder maßgeschneiderten Fahrzeugen, die ein bestehendes Basismodell adaptieren, handelt es sich bei zweckgebundene Fahrzeuge um Neuentwicklungen, die für folgende Zwecke optimiert sind:


  • Zugänglichkeit (niedrige Böden, breiter Einstieg, modulare Sitze)

  • Anwendungsspezifische Funktionalität (Kühlung, Autonomie-Sensorfelder, Camper-Module)

  • Wirtschaftlichkeit (Übertragungsteile >75 %, modulare Oberkörper, reduzierte Ausfallzeiten)


Diese Unterscheidung ist nicht trivial. Sie stellt das traditionelle Paradigma der Automobilentwicklung auf den Kopf: Statt „ein Basismodell für viele Anwendungen“ lautet die PBV-Logik „viele Karosserien für eine Plattform“.



Der Marktausblick: Von der Wachstumsstory zum strukturellen Trend


Marktsignale bestätigen die Dynamik:


  • Es wird erwartet, dass das weltweite PBV-Volumen im Jahr 2025 1,3 Millionen Einheiten übersteigen wird, was einer Vervierfachung gegenüber 2020 entspricht.

  • Analysten prognostizieren ein Wachstum auf über 3 Millionen Einheiten bis 2030, das durch Elektrifizierungsauflagen, Flottenerneuerung und Veränderungen in der städtischen Mobilität getrieben wird.

  • Zu den strukturellen Treibern zählen: Die alternde Bevölkerung verlangt nach Lösungen für Barrierefreiheit, der explosionsartige Bedarf an Logistik auf der letzten Meile im E-Commerce und bei der Lebensmittellieferung, die wachsende Nachfrage nach Freizeit- und Caravaning-Diensten in ganz Europa sowie die Skalierung von Ride-Hailing- und Robotaxi-Diensten über Pilotprojekte hinaus.


Kurz gesagt: PBVs sind keine Hype-Kurve – sie reagieren auf tiefe, anhaltende Bedürfnisse auf der Nachfrageseite.



Wer gibt das Tempo vor?

Kia: Der erste traditionelle OEM mit einer PBV-Strategie

Kia ist der erste etablierte OEM, der PBVs zu mehr als nur einer Designübung macht. Mit einem 700 Millionen Euro teuren Werk in Südkorea wird Kia 2025 den PV5 auf den Markt bringen, gefolgt vom PV7 im Jahr 2027 und später größeren Varianten. Das Konzept ist ausdrücklich modular: eine gemeinsame Unterkarosserie mit austauschbaren Obermodulen für Ride-Hailing, Logistik oder Service. Das Ziel des Unternehmens, bis 2030 1,5 Millionen PBVs zu produzieren, signalisiert eher industriellen Ehrgeiz als Nischenexperimente.


Chinas Skateboard-Innovatoren

Chinesische Start-ups wie U Power setzen Maßstäbe für die zukünftige Wirtschaftlichkeit von PBVs. Mit sechs bis zwölf Monate schnelleren Entwicklungszyklen und 60 Prozent niedrigeren F&E-Kosten als etablierte Unternehmen veranschaulichen sie, wie radikale Modularisierung und digitales Engineering die Regeln neu definieren können. Sie sind zwar noch keine Weltmarktführer, setzen aber den Wettbewerbsmaßstab in Sachen Geschwindigkeit und Kosten.



Wer liefert heute?


Rivian EDV: Vom Ankerfahrzeug zur Multi-Flotte

Rivian’s Electric Delivery Van (EDV) war zunächst an Amazons 100.000er-Bestellung gebunden. Doch 2024/2025 markierte einen Wendepunkt: Rivian beendete die Exklusivität und öffnete den EDV für andere Flotten in den USA und Europa. Dies ist eine Blaupause für PBVs: Beginnen Sie mit einem Ankerkunden, um die Kosten für Entwicklung und Werkzeuge zu amortisieren, und erweitern Sie dann auf mehrere Flotten, sobald Zuverlässigkeit und Gesamtbetriebskosten nachgewiesen sind.


Waymo, Magna und Zeekr: Industrialisierung der Autonomie

Im Jahr 2025 eröffnete Waymo in Arizona eine von Magna betriebene Fabrik zur Industrialisierung des Baus von Robotaxis. Das Werk montiert sowohl den Jaguar I-Pace als auch den Zeekr RT, ein Minivan-ähnliches PBV, das speziell für autonomes Fahren entwickelt wurde. Mit rund 2.000 geplanten Neufahrzeugen bis 2026 markiert dies die Professionalisierung der Robotaxi-Lieferkette. Für PBVs bedeutet dies, dass autonome Karosserien – niedrige Einstiegsböden, breite Innenräume, saubere Sensorfelder – Teil der Standardproduktion werden und nicht nur experimentelle Nachrüstungen sind.


Canoo: Eine warnende Geschichte

Canoos modulare PBV-Plattform erregte weltweite Aufmerksamkeit, doch die Auslieferungen bleiben uneinheitlich. Die Lehre ist klar: Visionäres Design allein reicht nicht; Zertifizierung, Produktionsreife und nachhaltige Finanzierung bleiben weiterhin entscheidende Faktoren. Anders ausgedrückt: PBVs haben zwar eine vielversprechende Zukunft, aber Disziplin bei der Umsetzung ist unverzichtbar.



Was macht gute zweckgebundene Fahrzeuge aus?


Drei Grundlagen sind nun in den erfolgreichen Fällen sichtbar:


  • Kunden-Co-Creation: PBVs florieren, wenn Kunden das Fahrzeug mitgestalten. Logistikunternehmen fordern einen robusten Innenraum und einfachen Servicezugang; Ride-Hailing-Anbieter wünschen sich Stehplätze und flexible Sitzgelegenheiten; Freizeitnutzer wünschen sich modulare Küchen oder Schlafkabinen. Im PBV-Geschäft geht es weniger darum, „ein Auto zu verkaufen“, als vielmehr darum, „ein Betriebsmittel zu liefern“.

  • Flexible Plattformen und Modularitätsgewinne: Die Entkopplung von Ober- und Unterkörpern ermöglicht eine schnellere Neukonfiguration und höhere Restwerte. Flottenmanager quantifizieren jetzt „Modularitätsgewinne“ in TCO-Modellen: Schnellere Umnutzung bedeutet weniger Ausfallzeiten und eine bessere Anlagenauslastung.

  • Compliance-fähige Lieferketten Da die USA und die EU die Beschränkungen für mit China verbundene Komponenten und Software verschärfen, müssen PBVs für zwei Compliance-Pfade entwickelt werden. Eine „saubere“ Stückliste ist zunehmend ein Beschaffungskriterium und kein nettes Extra.



Geschäftsmodelle: Erst der Anker, dann das Ökosystem


PBV-Go-to-Market-Modelle lassen sich in zwei Archetypen unterteilen:


  • B2B-Ankermodell: Direktverkäufe an große Flotten (Amazon, DHL, Uber). Dies senkt die Vertriebs- und Verwaltungskosten und sichert das Vorabvolumen.

  • B2B2C-Ökosystemmodell: Nutzung von Umrüstern und Aufrüstern, um fragmentierte Märkte zu erreichen – Taxis, Wohnmobile, Krankentransporter. In Europa, wo kein leichter Nutzfahrzeugtyp einen Marktanteil von mehr als 20 % erreicht, ist dieses Modell unverzichtbar.


Best Practice: Beginnen Sie mit einer engagierten Ankerflotte und erweitern Sie diese dann über Upfitter-Ökosysteme. Rivian’s EDV-Reise veranschaulicht diese Abfolge perfekt.


Zugang zu Nischenmärkten


Die Stärke von PBVs liegt in ihrer Fähigkeit, Nischen mit hohem Wert zu erschließen:


  • Caravaning & Freizeit: Die Zulassungen in der EU stiegen im Jahr 2024 um 5 % und zeigten sich trotz wirtschaftlicher Gegenwinde auch im Jahr 2025 stabil.

  • Gesundheitswesen und Zugänglichkeit: Mit der Alterung der Gesellschaft steigt die Nachfrage nach pflegefreundlichen Niederflur-PBVs.

  • Außendienst: Nutzfahrzeuge mit mobiler Stromversorgung, Konnektivität und Telematik.

  • Kühllogistik: EV-basierte Kühlketten-PBVs für die Lebensmittel- und Pharmalieferung.


In jedem Fall übertreffen PBVs herkömmliche Umbauten, indem sie geringere Lebenszykluskosten mit anwendungsspezifischer Benutzerfreundlichkeit kombinieren.



Ausblick 2025 – 2030: Von der Alternative zum Kern


Bis 2030 werden PBVs einen erheblichen Anteil der Neuwagenverkäufe in den Bereichen Logistik, Mobilitätsdienste und Nischenanwendungen ausmachen. Gewinner werden diejenigen sein, die:


  • Quantifizieren Sie TCO-Vorteile mit überprüfbaren Kennzahlen.

  • Bieten Sie Flottenmanagern Modularitätsdividenden.

  • Bauen Sie Compliance-fähige Lieferketten auf.

  • Orchestrieren Sie Ökosysteme aus Umrüstern, Ausrüstern und Dienstleistern.



PBVs begannen als „nette Kuriosität“. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts werden sie eine tragende Säule der Automobilportfolios sein und eine Brücke zwischen industrieller Disziplin und kundenspezifischer Flexibilität schlagen.


Quellen:

  1. Waymo-Blog „Skalierung unserer Flotte durch US-Fertigung“ (Mai 2025) – Details zur neuen Mesa-Fabrik, I-Pace- & Zeekr-RT-Produktion.

  2. Electrive (06.05.2025): „Waymo & Magna eröffnen Robotaxi-Umbaufabrik in Arizona“ – Produktion von 2.000 Jaguar I-Pace Robotaxis.

  3. Automotive World & Reuters (05.–06. Mai 2025): Bericht über neue Fabrik und geplante Fahrzeugzahlen.

  4. The Verge: Erweiterung der Robotaxi-Fleets um 2 000 Einheiten bis 2026.

  5. Waymo-Blog (siehe Quelle 1) – Zitat zu Tausenden Fahrzeugen jährlich bei voller Kapazität.

  6. Interview mit Peng Li, U POWER Tech (Aug 2025) – Beschleunigung um 6–12 Monate und Kostensenkung bei UP Super Board.

  7. Neuer Atlas (Jan 2024): Zeit- und Kostenvorteil des UP Super Board.

  8. PR Newswire (Jan 2024): Präsentation „plug-and-play“ UP Super Board auf CES.

  9. RV-Pro (Januar 2025): Europäische Freizeitfahrzeuge 2024: +5,2 %, Deutschland: +6,7 %.

  10. ModernCampground.com (Januar 2025): Bestätigung ECF-Daten zu Europa & Deutschland.

  11. CIVD Monatsbericht (H1 2025): Freizeitfahrzeug-Neuzulassungen in Deutschland knapp −4 % ggü. Vorjahr.

  12. AICShow (Q1 2025): Rekord bei Motorcaravan-Registrierungen (+7,2 %).

  13. Reuters News (05.05.2025): Waymo & Magna erweitern Robotaxi-Produktion, > 250 000 Fahrten/Woche.

  14. InsideEVs (05. Mai 2025): 2 000 weitere autonome I-Pace bis Ende 2026 geplant

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